In diesem Artikel geht es um ein Buch, das mich seit meinem sechzehnten Lebensjahr begleitet und das ich seither unzählige Male immer wieder gelesen habe. Es ist Der Nachsommer von Adalbert Stifter.
Wenn Du die letzten Empfehlungen verfolgt hast, weisst Du bereits, dass meine Lieblingsbücher oft nicht Jedermanns oder Fraus Sache sind. So auch bei diesem Buch. Lasse mich deshalb etwas ausholen, Dir den Inhalt nahebringen und dann erzählen, warum ich Dir diesen Roman sehr ans Herz lege
Ein idealer Entwicklungsroman
Heinrich Drendorf, der Erzähler der Geschichte, ist mit einem Vater gesegnet, der ihm als wohlhabender Wiener Kaufmann erlaubt, seiner Leidenschaft für die Wissenschaft zu frönen, ohne dass er einer Erwerbstätigkeit nachgehen müsste. Der junge Mann verbringt seine Sommer in den Bergen und auf dem Land, wo er seiner Liebe zur Geographie nachgeht. An einem dieser Sommertage sucht Heinrich Zuflucht vor einem aufziehenden Unwetter. Er erreicht ein reizendes Landhaus, das keinem geringeren als dem Baron von Risach gehört. Das liest sich so:
»Es ist ein Gewitter im Anzuge«, antwortete ich, »und es wird in Kurzem über diese Gegend kommen. Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an meinem Ränzchen seht, und bitte daher, daß mir in diesem Hause so lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen, oder wenigstens der schwerere, vorüber ist.«
»Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kommen«, sagte der Mann.
»Es wird keine Stunde dauern, daß es kömmt«, entgegnete ich, »ich bin mit diesen Gebirgen sehr wohl bekannt und verstehe mich auch auf die Wolken und Gewitter derselben ein wenig.«
»Ich bin aber mit dem Platze, auf welchem wir stehen, aller Wahrscheinlichkeit nach weit länger bekannt als ihr mit dem Gebirge, da ich viel älter bin als ihr«, antwortete er, »ich kenne auch seine Wolken und Gewitter und weiß, daß heute auf dieses Haus, diesen Garten und diese Gegend kein Regen niederfallen wird.«
»Wir wollen nicht lange darüber Meinungen hegen, ob ein Gewitter dieses Haus netzen wird oder nicht«, sagte ich; »wenn ihr Anstand nehmet, mir dieses Gittertor zu öffnen, so habet die Güte und ruft den Herrn des Hauses herbei.«
»Ich bin der Herr des Hauses.«
Auch wenn es aus diesem kurzen Ausschnitt nicht hervorgeht, die beiden Herren verstehen sich auf Anhieb, und Heinrich wird ein häufiger Gast im „Rosenhaus“.
Dort ist das Leben einfach und privat. Der alte Baron, der dem jungen Heinrich als Mentor und geistiger Führer dient, diskutiert mit ihm über Kunst, Kultur und Geschichte und bereichert seinen Geist und seine Seele. Die Gespräche drehten sich um Schönheit, Schmuck, Architektur, Literatur und das Mittelalter. Im Verlaufe der Geschichte lernt Heinrich auch Risachs Tochter, Nathalie kennen und die Geschichte nimmt ihren vorhersehbaren Verlauf.
Vielleicht erkennst Du die große Bedeutung dieses Buches für mich und meine Entwicklung aus der Tatsache, dass ich mir einen Schreibschrank habe anfertigen lassen. In dessen Vorderseite ist der Anfangssatz des Buches eingeschnitzt:
„Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miete war.“
Mentoren bereichern auch Dein Leben
In meinen jugendlichen Jahren suchte ich mir, ähnlich wie es Heinrich tat, ältere Männer als Mentoren. Sie haben mich, wie den jungen Heinrich, sehr gefördert und gefordert. Einer dieser Männer trug mir auch seine Tochter zur Heirat an, die ich glücklicherweise an einen mehr interessierten Freund vermitteln konnte.
Im Verlaufe meines Lebens veränderten sich meine Interessen und Ansichten mehr in die Richtung des älteren Barons. So sammle ich heute nach meinem Vermögen Gemälde der Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts und erfreue mich an schönen Dingen. Ich besitze sogar eines der seltenen Gemälde von Adalbert Stifter von dem Du einen kleinen Ausschnitt im Titelbild sehen kannst. Du kannst also mit Fug und Recht davon ausgehen, dass dieser Roman mein Leben entscheidend beeinflusst hat.
In der Anfangszeit las ich den Roman eher als fortlaufende Geschichte. Stifters Exkursionen in Kunst, Politik und Gesellschaft überblätterte ich einfach. Älter werdend interessierten mich auch diese Passagen. Aus dem 19.Jahrhundert stammend, sprachen sie jedoch eher meinen Gegenbeispielssortierer an. In den manchmal antiquierten Ansichten fand ich vielfältige Berührungspunkte dafür, mir eine eigene Meinung zu bilden.
Das erträumte Glück
Was nun fasziniert mich darüber hinaus an diesem Buch so sehr? Zuerst ist es die Sprache dann der Handlungsverlauf. Stifter schreibt in genauer und sehr präziser Sprache, die oft umständlich daherkommt. Wenn Du Dich darauf einlassen kannst, ist der Autor ein wunderbar genauer Beobachter und Beschreiber verschiedenster Naturphänomene.
Seinen eigenen Lebensentwurf kannst Du als so wenig geglückt bezeichnen, dass er sich am Ende eben dieses selbst nahm. Du findest also in diesem Buch ein ideal entworfene und beschriebene Welt vor, in dem es KEIN Böse gibt und das im Winckelmannschen Wahren, Guten und Schönen seinen besten Ausdruck findet.
Die schöne, heile Welt
Wenn ich im Nachsommer lese, nehme ich meine schön gedruckte, griffige Ausgabe im Dünndruck zur Hand. Sie liegt dann entweder neben meinem Bett oder ich lese in dafür bestimmten Mußestunden. Ich nehme mir Zeit und lasse mich auf die weitschweifigen Formulierungen ein und genieße den langsamen Fortgang der Handlung. Die besondere Stimmung des Buches beglückt mich und färbt als gute Laune auf mich ab. Vielleicht wird sich dieser Glückszustand auch für Dich aus dem Lesen erschliessen.
Vielleicht geht es Dir dann wie mir, und dieser Roman beeinflusst in einer Art und Weise Dein Leben, dass Du es zu einem Ideal zu gestalten versuchst. Das ist mir in gewisser Weise durchaus in meinem Leben gelungen. Dich mit den schönen Seiten des Lebens und der Dinge zu beschäftigen, ohne von ihnen abhängig zu sein, ist doch schon Ziel genug. Ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen, wäre dann das höchste Ziel. Dieses Buch kann Dir mit seinen antiquierten und doch in diesen Zeiten wieder sehr aktuellen Werten und Vorschlägen sehr gut dabei helfen.